November 2007 Nun sind es schon fast zwei Monate, seit ich hier am Atlantic College in Großbritannien angekommen bin. Sicher wundert ihr euch, warum ich mich solange nicht gemeldet habe – nun ja, ich musste mich erst einmal hier hinein finden, mich sozusagen einleben. Am Anfang war das tatsaechlich nicht ganz so leicht, wie ich gedacht habe, aber nun fuehle ich mich hier wirklich sehr wohl.
Seit Mitte September gehe ich also in Wales zur Schule. Tatsaechlich kann man es aber kaum „zur Schule gehen“ nennen: Es ist vielmehr eine Gemeinschaft, eine „family“, in die man hier aufgenommen wird (Auweia, das klingt wie eine Sekte... ich hoffe, ihr versteht, was ich meine ). Das Atlantic College ist naemlich eines der zwoelf weltweiten United World Colleges, an denen Jugendliche mit unterschiedlichster Herkunft zusammen kommen. So leben in den sieben Haeusern auf dem Campus des Atlantic Colleges ca. 350 Jugendliche mit ca. 78 unterschiedlichen Nationalitaeten, verschiedenen Religionen, politischen Ansichten und aus allen sozialen Schichten. Das ist zumeist sehr interessant, haeufig aber auch nicht ganz einfach. Zu den einzigartigen Charaktereigenschaften des Colleges komme ich aber spaeter, zuerst beschreibe ich euch, wie meine Woche hier so aussieht. Ich hoffe, ihr habt danach eine bessere Vorstellung vom Leben am Atlantic College.
Andreas (Norwegen), Dionne (Ghana), Ema (Kroatien), Honor (England), ich und Xavier (Kanada) in London; Nelson Mandela, Ehrenpräsident der United World Colleges
Langsam hat sich mein endgültiger Stundenplan heraus kristallisiert, nachdem ich noch diverse Fächer gewechselt habe. Montags faengt meine Woche mit „Assembly“ um 8:00 Uhr an, Fruehstueck gibt es jeden Tag bis 7:50 Uhr. Zu der Versammlung muessen alle Schuelerinnen und Schueler erscheinen, dort werden dann wichtige Termine oder Ankuendigungen der Woche bekannt gegeben. So hat unsere deutsche Gruppe am College anlaesslich des 3. Oktobers mit viel Elan die Nationalhymne geschmettert und erklaert, warum die Wiedervereinigung Deutschlands ein so wichtiges Ereignis fuer uns ist. Um 8:30 Uhr treffen sich dann die Schuelerinnen und Schueler alle zwei Wochen in ihren Turorengruppen. Mein Tutor ist ein Franzose mit gewoehnungsbeduerftigen Humor. Er beraet mich z.B. in meiner Faecherwahl, meiner Servicewahl oder auch spaeter in meiner Universitaetswahl. Monatlich gibt es dann bei ihm die „Monthly Grades“, die die Fachlehrer an ihn weitergeleitet haben.
Die „Monthly Grades“ sind Teil des „International Baccalaureates“, das ich hier absolviere. Es ist ein internationaler Schulabschluss, mit dem ich mich ueberall auf der Welt fuer Universitaeten bewerben kann. Genug dazu, ich fuerchte, detaillierte Erklaerungen wuerden diesen Bericht sprengen. Falls ihr euch also mehr dafuer interessiert (oder generell fuer die United World Colleges), koennt ihr den Links folgen oder mir einfach eine Email schreiben. Ich beantworte gerne alle Fragen.
AC-Calender 2008 Front Cover; Bild by Tony Davis Zurueck zu meiner Woche... Nach dem Tutorial habe ich bis 13:15 Uhr Unterricht – wie uebrigens jeden Tag. Montag und Freitag ist zusaetzlich von 17:00 Uhr bis 18:00 Uhr „Evening Code“ (Schulstunden werden hier uebrigens „Code“ genannt). Freistunden habe ich 2 pro Woche – leider aber niemals im letzten Code, um jemals frueh zum Mittagessen gehen zu koennen. Jede Schuelerin und jeder Schueler waehlt hier 6 Faecher, drei davon auf „Higher Level“. Manchmal nimmt man im Higher Level mehr Stoff durch, machmal bedeutet das aber auch einfach nur, dass man im Abschlussexamen mehr Fragen beantworten muss. Higher Level Codes dauern immer 60 Minuten, Standard Level Codes 50 Minuten. Am Anfang hatte ich wirklich Schwierigkeiten, mich an die Stundenlaengen zu gewoehnen, aber tatsaechlich finde ich es nun so besser. Man hat mehr Zeit, um z.B. Versuche durchzufuehren oder auch ausfuehrlichere Diskussionen / Debatten stattfinden zu lassen. Meine Faecher sind uebrigens Deutsch, Biologie, Chemie, Musik im Higher Level und Wirtschaft, Mathematik, Englisch im Standard Level. Ihr habt es sicherlich schon gemerkt, dass ich sieben Faecher habe. Mein siebtes Fach ist Musik, ich werde auch darin geprueft, aber es wird nicht fuer mein IB (= International Baccalaureate) zaehlen. Es ist im Moment trotzdem mein liebstes Fach, der Lehrer ist wirklich gut und wir versuchen uns gerade an unseren ersten Kompositionen.
Am Montagabend habe ich von 19:00 bis 21:00 Uhr Service, was in meinem Fall „Extramural Centre“ (= EMC) bedeutet. Es gibt hier am College neun Services mit den unterschiedlichsten Neigungsrichtungen. So hilft man im Arts Center des College mit, kulturelle Vor- und Ausstellungen zu organisieren oder lernt, mit dem Licht und Sound der Buehne umzugehen. Im Social Service besucht man z.B. Senioren und hilft ihnen beim Einkaufen, kochen etc. oder lernt, wie man Telefonseelsorger/in fuer „Childline“ wird. Letzeres ist psychisch natuerlich sehr fordernd; man wird mit den unterschiedlichsten und auch traurigsten Geschichten konfrontiert.
Die „Hardcore-Services“ sind definitiv Lifeguards und ILB (Inshore Lifeboat). Im ersteren macht man den “Pool- und Beachlifeguard” (= Rettungsschwimmer), im letzteren lernt man, Luftkissenboote und andere Rettungsboote zu fahren. ILB ist uebrigens hier am Meer (wir befinden uns direkt an der walisischen Kueste) die offizielle Kuestenrettung. Das bedeutet natuerlich, dass man als trainierter Schueler wirklich Dienst übernehmen und auch den Pager mit sich tragen muss. Traurigerweise musste ILB in der Vergangenheit sogar schon Selbstmordopfer retten/bergen. Die romantische Landschaft mit den Klippen war nämlich ein beliebter Ort für Selbstmörder, bis bestimmte Gebitete aus ebenjenen Gründen zu Teilen gesperrt wurde. Im letzten Jahr hat ILB aber wenigstens eine Ziege gerettet, die ins Meer gefallen ist (Selbstmordziege?). Hauptkritik an diesen Services ist nämlich, dass man nicht wirklich viel mit Menschen, mit der Kommune zu tun hat (vergleiche Social Service oder auch CEP, ein Service, bei dem man in Schulen geht und als Assistenz“lehrer“ mithilft). Dafür muss man in ILB und Lifeguards mehrmals in der Woche ein hartes Training absolvieren, um seine Kondition aufzubauen und immer einsatzbereit zu sein. Im Januar bei Minusgraden Surf- oder Kajaking-Unterricht im Meer zu absolvieren ist also gar nichts.
Mein Service ist ein wenig gemuetlicher (Nein, es ist trotzdem kein Weichei-Service :)). Es wird auch gesagt, es sei ein Service für diejenigen, die noch einmal zurück in ihre Kindheit reisen wollen oder einfach immer noch Kind geblieben sind. Im ersten Jahr werde ich nämlich lernen, Sport-Gruppenleiter zu sein, um dann im 2. Jahr so genannte „Sessions mit Kindern“ zu leiten, mit ihnen zu spielen, sich zu verkleiden etc. Sport ist natürlich auch enthalten, so lerne ich unter anderem Klettern, Kajaking und mache meinen Poollifeguard. Im zweiten Jahr kommen dann kleine Gruppen mit machmal sozial, machmal koerperlich oder psychisch benachteiligten Kindern zu unserem „Extramural Centre“. Sie bleiben meisten fuer mehrere Tage und kriegen das Freizeitprogramm vom EMC Service angeboten. Am Montag und Mittwoch habe ich also für jeweils zwei Stunden EMC-Service.
Am Dienstag habe ich wieder bis 13:15 Uhr Unterricht und den Nachmittag frei, bevor am Abend meine erste AG beginnt: „Save the children“, eine Organisation zur Hilfe von Not leidenden Kindern auf der Welt. Im Laufe des Schuljahres planen wir dann verschiedene Aktionen, um Spenden zu sammeln wie z.B. im Moment den Weihnachtsbasar. „Save the children“ wird von Schuelern geleitet, wie eigentlich fast alle AGs. Um das IB-Zertifikat zu erhalten, muss ich im ersten Jahr an mindestens drei AGs teilnehmen, die bestimmte Kriterien erfüllen (entw. sportlich, kreativ, sozial, globales Engagement etc.). Insgesamt habe ich vier Aktivitäten: am Mittwoch geht es mit „Amnesty International“ weiter, am Donnerstag mit „Social Enterprise“ und am Sonntag Schwimmen. Amesty International ist genau wie „Social Enterprise“ von Schülern geleitet. Jährlich werden verschiedene Aktionen durchgeführt, unter anderem Briefkampagnen oder Streettheater-Aufführungen, um die Öffentlichkeit auf Menschenrechtsverletzungen aufmerksam zu machen. Leider braucht man dafür aber auch genügend Geld, sodass „Fundraising“ hier bei fast allen Aktivitäten eine wichtige Rolle spielt. Um dieses Geld zu sammeln, werden oft Motto-Partys organisiert, wie z.B. letztens die „Halloween-Party“, die „AC-Gameshow“ oder der „Maskenball“, bei denen man Eintritt bezahlen muss.
Straßentheather Ende November gegen Menschenrechtsverletzungen in Burma.
Das war also ein ungefährer Wochenplan meines Alltags am College. Aber obwohl die Services, Aktivitäten und akademischen Komponenten sehr wichtig sind (und zwar in dieser Reihenfolge), gibt es noch mehr, was das Leben hier so einzigartig macht und das ich noch nicht erwähnt habe. Jede Woche steht hier nämlich unter einem anderen Thema und je nachdem finden dann verschiedene Aktionen statt. Anlässlich der „Environmental Focus Week“ wurde z.B. ein Gastsprecher einer Polarforschungsgesellschaft zu dem Thema „Globale Erwärmung“ eingeladen; die „Sports Week“ organisierte jeden Tag Turniere zwischen den sieben Häusern und die „Middle Eastern Focus Week“ beeindruckte mich besonders mit einer Präsentation des Konflikts im Mittleren Osten durch Studenten aus eben jenen Regionen. Letzteres ist genau das, was ich schon am Anfang dieses Berichts angesprochen habe: Das Zusammentreffen so vieler unterschiedlicher Kulturen, die nicht selten ohne Probleme sind. Aber dass ein Zusammenleben immer noch möglich ist, und vielmehr, dass trotzdem oder gerade dadurch eine solch enge Gemeinschaft entstehen kann, finde ich besonders erstaunlich und bemerkenswert. Denn obwohl sich die israelische Studentin mit dem palästinensischen Studenten einer hitzige Debatte liefert, respektieren sie sich doch als Menschen. Ein anderes Beispiel: Es gibt hier auf dem Campus relativ viele Homosexuelle. Was ich mit relativ meine? Verglichen mit anderen Schulen zum Beispiel. Denn tatsächlich ist der Prozentsatz am Atlantic College nicht etwa höher als an anderen Schulen, es ist viel eher so, dass hier sich die Studenten eher outen. Es herrscht hier eine derart liberale Einstellung, dass es nichts großartiges ist, wenn jemand verkündert, er oder sie sei homo- oder bisexuell. Natürlich gibt es hier auch homophobe Menschen, doch was ich eben schon erwähnt habe: die Gemeinschaft funktioniert trotzdem, egal ob diese Stundenten ihre Homophobie nun überwinden oder nicht.
Letzteres führt mich nun zu einem wichtigen Motto an diesem College: „Challenge youself!“; nutze die Möglichkeiten, probier neue Sachen aus, gehe an deine Grenzen! Hier werden uns so viele Chancen geboten, so viele Möglichkeiten, sodass man meistens einfach nicht die Zeit hat, um alles auszuprobieren, das man gerne machen würde. Meine vier Aktivitäten habe ich z.B. nach langem hin und her aus beinahe 60 Angeboten ausgesucht, die von Surfen bis hin zum Botbau ein wirklich breites Spektrum abdecken und viele Herausforderungen bieten. Viele wählen schwierige Fächer, um sich selbst herauszufordern (ich habe sieben Fächer anstatt von sechs) oder gehen in den Aktivitäten und Services an ihre Grenzen. Meine Zimmermitbewohnerin z.B. hat Lifeguards als ihren Service gewählt, obwohl sie Wasserphobie hatte. Sie gibt selbst zu, dass sie nun nicht die beste Schwimmerin in der Gruppe ist – aber nun kann sie nicht nur sich, sondern auch andere vor dem Ertrinken retten. Genau diese Einstellung der Menschen hier begeistert mich, dieses sich selbst und andere fordern, mehr Engagement zeigen, um die Welt ein wenig zu verbessern.
Natürlich ist dies sehr ideaslistisch und natürlich sind hier nicht alle super engagiert und wollen später einmal Entwicklungshelfer werden. Ich will ehrlich sein: Wir sind eine Gruppe von dreihundertfünfzig 16- bis 19-Jährigen, die hier zusammenleben, die genauso schlechte Angewohnheiten besitzen, die genauso Probleme verursachen, wie auch andere Internatsschüler. Rauchen z.B. ist hier ein oft diskustiertes Thema, denn wir haben durchaus Raucher am College, auch wenn es eigentlich ein rauchfreies College sein soll. Ein viel profaneres Beispiel wäre auch der riesige Stapel an dreckigem Geschirr in unserer Gemeinschaftsküche, der einfach nicht verschwindet oder vielmehr immer wieder aufgefüllt wird, weil Manche ihr Geschirr einfach nicht abwaschen.
Es ist wie gesagt, keine perfekte Welt. Aber gerade deswegen sind es sehr intensive, oftmals prägende, manchmal widersprüchliche, immer aber jedoch wertvolle und einzigartige Erfahrungen, die ich hier am Atlantic College sammle. Mich für die United World Colleges zu bewerben war die beste Entscheidung, die ich je getroffen habe.